Leben und Lernen International

Danke, Henry B. Ollendorff!

 

Dieser Artikel ist in der Veröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe AGJ www.agj.de „Leben und Lernen International – 50 Jahre CIP“ 2005 erschienen.

 So möchte ich meine Rückbesinnung auf meine Teilnahme an dem Programm überschreiben. 

1970 – ich war ein junger Sozialarbeiter in einem Sozialpsychiatrischen Dienst Berlins – machte mich die Direktorin der Akademie, an der ich studiert hatte, auf das Cleveland International Program aufmerksam. Sie wollte mich für eine Bewerbung vorschlagen. Dass ich außerdem noch Stipendiat der Victor-Gollancz-Stiftung war, spielte wohl eine weitere Rolle.

 Ich überlegte nicht lange und stellte mich dem Interview, welches damals noch von Henry B. Ollendorff persönlich geleitet wurde. Mein Hauptinteresse war es, das US-amerikanische Sozialsystem kennen zu lernen. Wir hatten ja eine große Anzahl amerikanischer Autoren im Studium gelesen und ich war der Meinung, dass man in Amerika – trotz aller Kritik – in vielen Dingen, also auch im Sozialbereich, weiter sei als wir.

Es gab wohl an die hundert deutsche Bewerber, von denen wurden dann etwa zwölf ausgewählt. Ich war dabei – obwohl ich wegen der großen Zahl der Interessenten nicht damit gerechnet hatte.

Mein Arbeitgeber war damit einverstanden, dass ich – unter Fortzahlung meiner Sozialversicherungsbeiträge von Seiten des Arbeitgebers – für das Programm von Mitte April bis Mitte August 1971 freigestellt wurde. Außerdem bezahlte das Bundesjugendministerium den Flug. Diese Regelung finde ich auch heute noch als recht großzügig!

Durch amerikanische Verwandte und Freunde – ich war jahrelang Mitglied einer deutsch-amerikanischen Diskussionsrunde an den Amerikahäusern in Nürnberg und später in Berlin – war ich nicht unvorbereitet auf die USA. Trotzdem war ich sehr gespannt auf das, was mich erwartete. Die Möglichkeit einer Reise nach Amerika war damals eher eine Seltenheit.

Nun kam aber noch ein anderer Faktor hinzu. Wir hatten in Berlin ja all die Jahre die großen Demonstrationen gegen die politische Führung Amerikas wegen des Vietnam-Krieges erlebt. Wir waren sehr kritisch, was die US-Außenpolitik betraf. Bei der Vorbereitungstagung mit der Victor-Gollancz-Stiftung wurden diese Fragen auch von uns  Teilnehmern angesprochen. Leider kamen – auch von ehemaligen Teilnehmern des Programms – lediglich Allgemeinplätze als Antwort. Umso größer war denn die Spannung auf das was uns in den USA erwartete.

Wir Teilnehmer trafen also nach einem Zwischenaufenthalt in Island in New York ein. Henry B. Ollendorff und seine Mitarbeiter hatten ihr ganzes Organisationstalent bewiesen. Der Empfang, die Einführungen in einem New Yorker Hotel waren hervorragend. Die Hilfsbereitschaft der Organisatoren, das erregende Erlebnis, Teilnehmer (185) aus jedem Winkel der Erde vorzufinden, die große Stadt New York City und die Erwartung auf das Programm waren für uns damals schon sehr beeindruckend. Ich war seitdem mehrer Male in New York – die Stärke des Ersterlebnisses hat sich nicht mehr eingestellt.

Die Stadt, in der ich die nächsten Wochen leben sollte war Columbus, Ohio. Auch dort war durch das CAIP (Columbus Area International Program) alles hervorragend organisiert worden. Wir wurden am Flughafen abgeholt und verbrachten die nächsten Tage in den Blockhütten eines Naturschutzparks und wurden dort sehr gut auf das zu Erwartende vorbereitet. Selbstkritisch muss ich sagen, dass speziell wir Westeuropäer mit unserer Amerikakritik wahrscheinlich  recht unangenehm auffielen. Doch unsere Gastgeber waren sehr höflich – ließen sich nicht aus der Ruhe bringen.

Wir wurden nach den Einführungstagen in Gastfamilien aufgeteilt – ich war während meines Aufenthaltes in Ohio insgesamt in fünf verschiedenen. Auch diese Menschen bemühten sich als gute Gastgeber sehr um uns, durchlitten unsere Fragen und im Nachhinein muss ich ihre Geduld bewundern. Ich glaube wir waren die zweite Gruppe von internationalen Gästen des Programms in Columbus und deshalb auch für unsere Gastgeber von großem Interesse. Das erlebten wir dadurch, dass wir sehr viele Einladungen zu Dinner-Partys erhielten.

Von den 28 Teilnehmern aus 22 Nationen waren vier Deutsche. Wir hatten uns vorher schon abgesprochen, nicht dadurch aufzufallen, dass wir dauernd deutsch sprachen. In unserer Gruppe waren Asiaten, Afrikaner, Lateinamerikaner und Europäer. Wir verstanden uns nach kurzer Zeit alle recht gut! Das ist für mich wohl das nachhaltigste Erlebnis! Es half natürlich, dass wir als gemeinsamen Hintergrund unsere berufliche oder ehrenamtliche Erfahrung im Sozialbereich hatten.

Es folgten dann vier Wochen eines gedrängten Programms mit Vorlesungen an der Ohio State University verbunden mit Besichtigungen von sozialen Einrichtungen und Vorträgen. Ich erinnere mich noch, dass mir der wenig autoritäre Stil der Vorlesungen sehr gefiel. Nach jeder Vorlesung wurde grundsätzlich diskutiert, was zur Klärung von Halbverstandenem oder zur Kenntnisnahme anderer Gesichtspunkte zum gleichen Problem wichtig war. Es wurden Sozialsystem, Sozialarbeiter-Ausbildung, Rehabilitation von Strafgefangenen, Gesundheitsfürsorge, Erziehungssystem, Geburtenkontrolle, Rassenbeziehungen, Politik, Religion, Wirt-schaftsentwicklung, Familientherapie, Urbanisation, Gerichtswesen, etc. behandelt. Kurzum wir erhielten einen fundierten Einblick in das amerikanische Sozialsystem. Es folgten Be-suche in sozialen Einrichtungen, wie Schulen, Krankenhäusern, religiösen Gemeindezentren Seniorenheimen, Freizeitstätten, im Regierungsgebäude, in einem Gericht, etc.

 Die von den Offiziellen des CAIP geleistete Arbeit kann ich nur als sehr gut bezeichnen. Sie und wir waren natürlich Pioniere und deshalb war das Interesse von beiden Seiten sehr groß, das Programm zu einem Erfolg zu führen. Beeindruckend war für viele von uns die Offenheit mit der man auch das hässliche und schmutzige Amerika zeigte. Andererseits waren auch empfindliche Reaktionen auf unsere kritischen Fragen und Urteile recht häufig. Wir junge Deutsche – mit besonders wenig Nationalgefühl erzogen – erschreckte manchmal der ungewohnte Nationalstolz unserer amerikanischen Gastgeber.

Mein Praxisfeld war dann das „Ohio Bureau of Drug Abuse (BUDA)“. Es handelte sich um ein neues Programm des Bundesstaats Ohio mit Methadon die steigende Heroinsucht – besonders unter den Vietnam-Heimkehrern – zu bekämpfen. Heroinsucht war damals in Berlin ein noch weitgehend unbekanntes Problem.

Ich wurde einer Sozialarbeiterin zugeteilt und sollte innerhalb kurzer Zeit Einzelinterviews führen. Die meisten der Klienten waren Schwarze und ich erinnere mich noch, dass ich meine Ängste äußerte, dass ich deren Amerikanisch nicht richtig verstünde. Gleichzeitig entstand damals eine große Bewegung unter den Afro-Amerikanern (Black Panther), die sich gegen echte oder vermeintliche Bevormundung durch Weiße wehrte. Umso großer war nun mein Erstaunen, dass speziell die Schwarzen mich als ihren „Gruppentherapeuten“ haben wollten.

Der Grund war, dass ich zwar weiß aber eben kein weißer Amerikaner war! Meine Befürchtungen, dass ich sie vielleicht nicht gut genug verstehen würde, zerstreuten sie damit, dass ich eben nachfragen sollte. Das tat ich dann auch – sehr oft! – und das führte dazu, dass sie zuerst mir irgendein Problem erklärten und dann untereinander ins Gespräch kamen. Jedenfalls war die fast täglich stattfindende „Gruppentherapie“ nach ihren Angaben ein großer Erfolg. Wegen der großen Hitze zogen wir manchmal in einen Park und saßen nun diskutierend in einem großen Kreis – ich der einzige Nichtschwarze – und Passanten blieben erstaunt stehen, und wunderten sich, dass mir nichts geschah. (Zum Abschluss meines Aufenthalts wurde ich dann von der Gruppe in das „German Village“ eingeladen und durfte dort so urdeutsche Gerichte wie „Bahama Mamas“ verzehren.)

Dieser Arbeit, die mir immer mehr Spaß machte, hatte ich dann eines Tages auch die Einladung zu dem Leiter der Black Panther in Columbus zu verdanken. Vermittelt wurde mir dieser Kontakt durch den afro-amerkianschen Freund, einem Psychologen,  einer schwarzen südafrikanischen Teilnehmerin an dem Programm.  Mit beiden hatte ich ein sehr gutes Verhältnis und sie hatte mich noch im gleichen Jahr in Berlin besucht – ihr ersten Besuch in einem „lilywhite country! (d. h. damals ohne nennenswerten farbigen Bevölkerungsanteil), für uns beide ein sehr spannendes Erlebnis!

Zurück zu dem „Lieutenant“ (so sein Titel unter den Black Panthers). Ich hatte einige Zeit zu warten. Etliche junge Leute betrachteten mich – dem einzigen Weißen – nicht gerade farbig. Manche – das war damals üblich – starrten mich unverwandt an. Endlich kam mein – sehr freundlicher – Gesprächspartner. Er beantwortete – nachdem er mich nach meiner Herkunft und meinen Ansichten befragt hatte – bereitwillig meine Fragen. Er meinte, dass die Bewegung den jungen Leuten – zumeist Männern – Stolz geben wollte. Warum das mit pseudomilitärischem  Drill geschähe? Die Jugendlichen kämen oft aus zerbrochenen Familien in dem sie nie echte Autorität kennen gelernt hätten. Hier würden sie sich freiwillig einer Hierarchie unterwerfen. Gleichzeitig versuche man, ihre Stärken und ihren Stolz zu fördern. Das Anstarren von Nicht-Schwarzen gehöre dazu, ihr Selbstbewusstsein zu fördern. Viele Weiße würden Schwarze durch Nichtbeachtung strafen und durch diese Blicke müsse man sie wahrnehmen.

Bedrückend für mich war seine Aussage, dass er nicht an ein echtes Zusammenleben der schwarzen und weißen Amerikaner glaube. Die Bewegung suche also auch weniger die Verständigung – wie z.B. Martin Luther King – sondern fordere einfach gleiche Rechte, die man dann auch in einer Parallel-Gesellschaft verwirklichen könne.

Nach meiner Rückkehr nach Deutschland war ich der Meinung, dass unser Sozialsystem leistungsfähiger war. Das traf meines Erachtens zumindest auf die Siebzigerjahre zu. In der Theorie und in der Experimentierfreude und Offenheit schien mir Amerika immer noch als Vorbild.

Besonders angetan war ich von der Freundlichkeit der Menschen, wenn auch  viele wenig oder gar kein Wissen oder Interesse an anderen Ländern und Kulturen hatten. Ich darf auch nicht ohne Stolz sagen, dass ich immer noch mit zwei ehemaligen Gastfamilien Kontakt habe (ein Ehepaar besuchte mich vor ein paar Jahren) und letztes Jahr aus Columbus einen meiner ehemaligen Professoren mit seiner Familie durch Berlin führen konnte.

Selbstkritisch muss ich bemerken, dass besonders wir Europäer den Gastfamilien – oder auch anderen Menschen, die sich für uns interessierten – gehörig auf die Nerven gingen. Besonders immer wieder vorgebrachte Fragen nach dem Engagement der USA in Vietnam überforderten viele der Gesprächspartner. Es gehörte offenbar nicht zum guten Ton, politisch brisante Themen beim abendlichen Dinner zu diskutieren. Irgendwie hatten sie da auch Recht – denn ich finde im Nachhinein, dass wirklich interessante Menschen durch uns verprellt wurden. Sie hatten einfach zu wenig Informationen über andere Menschen und wir hätten sie ja informieren können – aber sicher nicht durch Konfrontation. Ein weiterer Konfliktpunkt, der von uns oft hemmungslos den armen Leuten vorgehalten wurde, waren die Rassenprobleme. Dabei versuchten die Leute, mit denen wir Kontakt hatten, doch ehrlich, dass diese Dinge in ihrem persönlichen Leben keine Rolle spielten.

Ich darf ein Beispiel aus der Mensa der Ohio  State University erzählen. Eine nigerianische Teilnehmerin – wir verstanden uns sehr gut, sie sich mit ihren schwarzen Gasteltern weniger und vor allem hatte sie Angst  vor der angeblichen Gewalt in dem Stadtviertel in dem sie lebte! – und wir unternahmen deshalb auch am Wochenende viel. Ich habe sie und ihre Familie später in Lagos besucht – ein beeindruckendes Erlebnis! In besagter Mensa saßen wir immer zusammen. Im einem Teil des Saales nahm  die große Mehrheit der weißen Studenten ihr Mahl ein, ein einem anderen Teil die Schwarzen. Wir saßen nun genau in der Mitte – mit leeren Tischen zu den anderen Studenten und erregten natürlich erhebliche Aufmerksamkeit. Vor allem lachten wir viel – was ja nur bedeuten konnte, dass wir nicht stritten. Eines Tages kam eine freundliche afroamerikanische Studentin, stelle sich als Architekturstudentin vor und fragte, ob sie bei uns sitzen könne. Sie wollte wissen, woher wir kämen und wir hatten uns viel zu erzählen. Wir verabredeten uns dann des Öfteren und unser kleiner Kreis wuchs. Rassenprobleme haben wir nicht diskutiert – sie waren ja sichtbar und sie waren in unserer kleinen Gruppe einfach nicht wichtig. Wir alle bedauerten, dass wir irgendwann die Uni verlassen mussten, da dann die praktische Arbeit begann. Die arme Nigerianerin kam in ein Zeltlager für schwererziehbare Jugendliche und rief mich manchmal an und war ganz erledigt.

Unsere Teilnehmergruppe hielt jahrelang Kontakt untereinander, wir besuchten uns gegenseitig. So war ich bei Ehemaligen aus meiner Gruppe in Nigeria, Dänemark, Thailand und Jordanien zu Besuch. Bei mir waren Teilnehmer aus Dänemark, Großbritannien und Südafrika. Vielleicht ist das einer der größten Erfolge des Programms, dass zwischen Menschen aus den verschiedensten Kreisen dauerhafte Verbindungen geschaffen werden. Die ursprüngliche Idee, die sich ja in dem Motto von Henry B. Ollendorff wiederfindet, dass durch Verständigung und Kontakt  Katastrophen, wie Krieg, Völkermord, etc. verhindert werden sollen.

Der fachliche Gewinn war für mich zwar nicht zu unterschätzen – vieles konnte ich in Berlin aber nicht anwenden. Meine Erfahrung in einer Methadon-Therapie-Einrichtung wurde hier nicht gebraucht. In Berlin wurde ja jahrelang über das Für und Wider einer solchen Institution diskutiert.

Als Fazit möchte ich ziehen, dass – bei aller Kritik am American Way of Life – ich die Erfahrung meines Aufenthaltes mit CIP in den USA nicht missen möchte. Es hat – wenn ich Rückschau halte – doch erheblich mein weiteres Leben bestimmt. Alleine meine internationalen Kontakte, die ich durch das Programm erwerben durfte, machen mein persönliches Leben reicher. Die berufsspezifischen und fachlichen Aspekte kamen dabei sicher etwas zu kurz. Da ich aber seitdem aktiv im Council of International Fellowship - CIF mitarbeite, bieten sich vielfältige Möglichkeiten, Kontakte ins Ausland oder hier nach Deutschland zu vermitteln, wenn jemand Fragen aus dem Sozialbereich hat.

Gerhard Schmidt-Grillmeier